Politik und Kultur spielen bei der Erklärung der Impfhürde eine ebenso wichtige Rolle wie Gesundheit. In der Türkei herrscht Misstrauen gegenüber dem Staat, in den USA religiöse Gründe und der Widerstand gegen Abtreibungen. „Egal, was sie sagen, ich tue das Gegenteil. Wenn sie mir sagen, ich soll eine Maske tragen, trage ich keine Maske. Und ich lasse mich nicht impfen.“ Dieses Zitat stammt von Ercan, einem Apotheker und Homöopathen aus Istanbul und einer von vielen Türken, die sich nicht gegen COVID-19 impfen lassen wollen. „In der Türkei nutzen viele Menschen das Impfthema als Gelegenheit, um sich gegen die Macht des Staates zu wehren“, sagt Einar Wigen, außerordentlicher Professor für Türkeistudien an der Universität Oslo. Zusammen mit Nalan Azak, Doktorandin für Nahoststudien, hat er die Bedeutung von Impfungen, sowohl historisch als auch im Zusammenhang mit dem neuen Coronavirus-Impfstoff, analysiert. Laut Wigen ist dies wesentliches Wissen im Kampf gegen Infektionskrankheiten. „Es reicht nicht nur, einen Impfstoff zu entwickeln, man muss auch seine kulturelle und politische Bedeutung in der Gesellschaft verstehen“, betont er. Impfzwang versus Misstrauen gegen den Staat In den nordischen Ländern wird das hohe Vertrauen zwischen der Bevölkerung und den öffentlichen Behörden oft als wichtigstes Instrument im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie hervorgehoben. In der Türkei gibt es jedoch weitaus weniger Vertrauen zwischen den Bürgern und dem Staat, und der autoritäre Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist bekannt für seinen umfassenden Einsatz von Macht gegen seine Gegner. In der Türkei sind alle Impfungen derzeit freiwillig. Impfzwang war jedoch schon lange vor Erdoğans Amtszeit ein wirksames Instrument in der türkischen Gesundheitspolitik. „Die Türkei hat weltweit eine der höchsten Impfraten bei Kindern, aber eine der niedrigsten bei der Influenza-Impfung bei älteren Menschen. Dies lässt sich damit erklären, dass das Kinderimpfprogramm der WHO obligatorisch war, während die Influenza-Impfung freiwillig war“, erklärt Wigen. Er verweist auf eine lange Geschichte der obligatorischen Impfung. Ab 1884 war die Impfung obligatorisch, um die Schule zu besuchen, und ab 1930 war sie für alle in der Türkei lebenden oder sich dort aufhaltenden Menschen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, verpflichtend. „Der Erfolg des Zwangs hat dazu geführt, dass andere Mittel vernachlässigt wurden, wie zum Beispiel der Aufbau von Vertrauen oder die Überzeugung der Menschen, dass Impfungen gut für sie sind.“ Nicht nur eine individuelle Entscheidung Wigen glaubt, dass Menschen auch zum Impfen gedrängt werden können. „Obwohl die Impfung völlig freiwillig ist, gibt es viele Faktoren in der Gesellschaft, die die Menschen dazu drängen, sie zu nehmen.“ Im Dezember 2021 waren nur knapp 60 Prozent der Bevölkerung der Türkei gegen COVID-19 geimpft. Wigen verweist auf ein Interview, in dem ein Mitarbeiter eines großen türkischen Ölkonzerns sagte, dass ungeimpfte Menschen mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes bedroht würden. „Ich weiß nicht, ob sie tatsächlich entlassen werden, aber das sagt etwas aus über die verschiedenen Möglichkeiten, Menschen zur Impfung zu ermutigen, außer durch Zwang durch den Staat. Zum Beispiel haben einige Leute angenommen, dass sie nicht reisen dürfen, wenn sie nicht geimpft sind.“ Wigen glaubt, dass die Impfskepsis in der Türkei nicht durch Individualismus erklärt werden kann. „Ich habe in letzter Zeit keine Studien dazu gesehen, aber die Türken haben tendenziell eine hohe Wertung im kollektiven Denken erzielt. Das führt jedoch nicht zwangsläufig zu Vertrauen in den Staat, weil nicht der Staat als das Kollektiv betrachtet wird.“ Wendepunkt für Impfungen im Jahr 2015 Obwohl Erdoğan viele Rechte der Türken missachtet hat, waren es die verfassungsmäßigen Menschenrechte, die zur Abschaffung der obligatorischen Impfung führten. Im Jahr 2015 landeten zwei Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen wollten, vor Gericht. Der Oberste Gerichtshof der Türkei entschied, dass es gegen die Verfassung verstößt, jemanden zur Impfung zu zwingen. Seitdem ist die Anzahl der Familien, die ihre Kinder vom Impfprogramm ausnehmen, stark gestiegen. Im Jahr 2018 lag diese Zahl bei rund 13.000. Die Eltern argumentierten, dass die Impfungen schädliche Substanzen enthalten können, die unter anderem Autismus verursachen können. Dies ist ein weit verbreitetes Argument, das auf den ehemaligen akademischen und diskreditierten Arzt Andrew Wakefield zurückgeht, der 1998 eine stark kritisierte Studie über den Zusammenhang zwischen dem Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) und Autismus veröffentlichte. Wigen erkennt Wakefields Argumente unter Impfgegnern in der Türkei. „Informationen und Fehlinformationen über mögliche Nebenwirkungen der Impfungen haben sich seit 2015 in vielen Gemeinschaften und Kanälen verbreitet. Es scheint, dass immer mehr Menschen diese Argumente von außen aufgreifen, und in diesem Sinne ist dies Teil eines breiteren internationalen Bildes.“ Impfnationalismus und prophetische Medizin Wigen sieht in der Türkei noch weitere und überlappende Begründungen für die Impfskepsis. Einige Menschen verbinden den Widerstand gegen Impfungen mit der sogenannten „prophetischen Medizin“. „Dies ist eine kulturspezifische Form der alternativen Medizin, bei der verschiedene ‚althergebrachte Geschichten‘ mit Beispielen aus den Hadithen verknüpft werden. Der Prophet Muhammad dient als Vorbild, und der Schwerpunkt liegt auf Gebet und Fasten, ganz zu schweigen von Nüssen, Datteln und Honig: also Ernährung und Lebensstil statt pharmazeutischer Medikamente.“ Nationalismus beeinflusst auch die vorherrschende Ansicht von Impfungen in der Türkei. Es werden verschiedene Coronavirus-Impfstoffe angeboten, und Präsident Erdoğan hat die Bevölkerung ausdrücklich dazu aufgefordert, den von der Türkei entwickelten Impfstoff zu nehmen, den er als „traditionellen“ Impfstoff bezeichnet. Der türkische Impfstoff Turkovac unterscheidet sich von den Impfstoffen von Pfizer, BioNTech und Moderna, die auf der neuen mRNA-Technologie basieren, und ähnelt eher dem Impfstoff von AstraZeneca, zum Beispiel. Religious vaccine exemption in the USA Hanne Amanda Trangerud researches religiously based vaccine scepticism in the USA.
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